Totipotenz I
Totipotenz I: Hat "Totipotenz" als Status begründendes Kriterium ausgedient?
Was macht einen Embryo aus? Dass eine Zelle totipotent ist, war bislang die juristische Antwort. Das hat sich überholt, sagen Passauer Juristinnen und Juristen. In der im Rahmen des Projekts vorgeschlagenen neuen Embryodefinition spielt trotzdem die Entwicklungsfähigkeit weiterhin die entscheidende Rolle.
Totipotenz als rechtliches Kriterium
Unter den Begriff des "Embryos" im Stammzellgesetz (StZG) fällt jede totipotente Zelle. Gleiches gilt - jedenfalls bei extrem weiter, den Wortlaut vernachlässigender Auslegung -für das Embryonenschutzgesetz (ESchG). Als totipotent - "alleskönnend" - wird eine Zelle aufgefasst, die sich zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag. Totipotenz bezeichnet also eine bestimmte, sehr weit reichende Entwicklungsfähigkeit.
Juristinnen und Juristen der Universität Passau waren Teil eines interdisziplinären Teams, das im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projektes unter anderem einen Reformvorschlag für die rechtliche Definition des Embryos vorgelegt hat. Die Passauer Gruppe arbeitete eng mit Expertinnen und Experten aus Philosophie und Medizin zusammen. Der Titel des Forschungsvorhabens lautete: "Entwicklungsbiologische Totipotenz: Bestimmung als ein normatives Kriterium in Ethik und Recht unter Berücksichtigung neuer entwicklungsbiologischer Erkenntnisse."
"Qualifizierte Entwicklungsfähigkeit" statt Totipotenz
Die das Forschungsteam leitende Nachwuchswissenschaftlerin schlägt in ihrer Dissertation vor, das Kriterium der Totipotenz durch das Kriterium der "qualifizierten Entwicklungsfähigkeit" zu ersetzen. Einzelne Zellen oder mehrzellige Einheiten sollten sich mindestens bis zur Neuralrohrbildung weiterentwickeln können, bis zur frühestmöglichen Form der Hirnentwicklung also. Zellen, die z.B. im Kontext einer Zellreprogrammierung nur vorübergehend ("transient") totipotent sind, fallen nicht unter die neue Definition.
Heißt: Wenn Medizinerinnen und Mediziner im Labor künstlich durch Reprogrammierung von Körperzellen sog. induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) erzeugen und diese Zellen dabei im Zuge der Reprogrammierung eine vorübergehende Phase der Totipotenz (sog. "transiente Totipotenz") durchlaufen, dann wäre diese Handlung der Definition zufolge rechtlich erlaubt. Wenn sie Experimente an im Labor befruchteten, menschlichen Zellen vornehmen würden, dann wäre dies der neuen Definition zufolge dagegen rechtlich verbotener Embryonenmissbrauch, sofern die Zellen bis zur Neuralrohrbildung entwicklungsfähig sind.
Schwächen der derzeitigen Definition
Derzeit lautet die Definition von Embryo im ESchG folgendermaßen:
(1) Als Embryo im Sinne dieses Gesetzes gilt bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag.
(2) In den ersten vierundzwanzig Stunden nach der Kernverschmelzung gilt die befruchtete menschliche Eizelle als entwicklungsfähig, es sei denn, dass schon vor Ablauf dieses Zeitraums festgestellt wird, dass sich diese nicht über das Einzellstadium hinaus zu entwickeln vermag.
Das Passauer Forschungsteam sieht hier folgende Schwächen:
- Bis zu welchem Stadium muss sich eine Zelle entwickeln können, um als totipotent zu gelten?
- Lässt sich beweisen, dass sich die Zellen zu einem Individuum hätten entwickeln können?
- Ist die Befruchtung einer Eizelle zwingende Voraussetzung für die Definition eines Embryos?
- Was ist mit hochartifiziellen Formen von Totipotenz, die sich aus den neuen Möglichkeiten der modernen Entwicklungsbiologie ergeben?
Im Wesentlichen die gleichen Fragen stellen sich in Bezug auf die Embryodefinition im StZG.
Der neue Vorschlag und seine Vorteile
Der Reformvorschlag der das Passauer Forschungsteam leitenden Doktorandin lautet:
Abs. 1: Embryo im Sinne dieses Gesetzes ist jede humane qualifiziert entwicklungsfähige Entität. Ausgeschlossen sind Vorkernstadien sowie Stadien, in denen die qualifizierte Entwicklungsfähigkeit noch nicht stabilisiert wurde.
Abs. 2: Qualifizierte Entwicklungsfähigkeit ist die Fähigkeit, sich bei Vorliegen der dafür erforderlichen unterstützenden Voraussetzungen mindestens bis zum Beginn der Neuralrohrbildung zu entwickeln.
An die Stelle der Totipotenz tritt also das Kriterium der "qualifizierten Entwicklungsfähigkeit". Die Vorteile dieses Ansatzes:
- Qualifizierte Entwicklungsfähigkeit kann sich - anders als Totipotenz - auf mehrzellige Einheiten beziehen.
- Das Kriterium ist klar definiert: Die Zellen oder die Einheiten müssen sich bis zur Neuralrohrbildung entwickeln können, also bis zur frühestmöglichen Form der Hirnentwicklung.
- Der Begriff der Kernverschmelzung kommt in der Definition nicht vor. Dieser erscheint den Juristinnen und Juristen aufgrund des heutigen entwicklungsbiologischen Forschungsstandes überholt.
- Transiente Totipotenzstadien gelten dieser Definition zufolge nicht als Embryonen.
Entscheidend ist hier also die Fähigkeit, dass sich die Zellen oder mehrzelligen Einheiten bis hin zur Neuralrohrbildung entwickeln können. Ob es sich dabei um künstliche oder um natürliche menschliche Zellen handelt, spielt in dieser Definition keine Rolle. Im Anschlussprojekt "Totipotenz als rechtliches Kriterium im Lichte neuer Erkenntnisse der Entwicklungsbiologie“ untersuchten die Forscherinnen und Forscher unter anderem, welche weiteren Kriterien künstlich geschaffene Zellen erfüllen müssen, um als Embryo zu gelten. Mehr dazu
Beteiligte und Förderung
Prof. Dr. Dr. Thomas Heinemann, Inhaber des Lehrstuhls für Ethik, Theorie und Geschichte der Medizin an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar (PTHV), koordinierte das Projekt. Prof. Dr. Hans-Georg Dederer, Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht, leitete das juristische Teilprojekt an der Universität Passau. Prof. Dr. Tobias Cantz, Leiter des Exzellenzclusters REBIRTH an der Medizinischen Hochschule Hannover, und Prof. Dr. Hans Schöler, Direktor am Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin, steuerten Erkenntnisse aus der Stammzell- und der Molekularforschung bei.
Das Projekt erhielt Fördermittel vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Die Laufzeit betrug drei Jahre.
Projektleitung an der Universität Passau | Prof. Dr. Hans-Georg Dederer (Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht) |
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Laufzeit | 01.10.2010 - 31.03.2014 |
Website | http://www.jura.uni-passau.de/dederer/bmbf-projekte/bmbf-projekt-i/ |
Mittelgeber | BMBF - Bundesministerium für Bildung und Forschung |
Projektnummer | 01GP1007B |