Studienreform in Abdera
Studienreform in Abdera
In der antiken Stadt Abdera war die Jurisprudenz bekanntlich zu einem sonst nie mehr erreichten Niveau gelangt. Neidvoll blickte man selbst in Athen auf die abderitische Rechtsgrundlagenforschung, die der bloßen Handwerkskunst der eigenen Advokaten geradezu unvergleichlich überlegen war. Nicht lange nach dem berühmten Prozeß um des Esels Schatten setzte indessen ein Verfall ein, der die abderitische Rechtswissenschaft in raschen Schritten auf vorabderitisches Niveau zurückbrachte. Die Ursachen dieser Entwicklung haben den Historikern in der Folge manches Rätsel aufgegeben. Im Zuge einer von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen großangelegten Untersuchung über die Vorläufer der gegenwärtigen Studienreform sind die näheren Zusammenhänge indessen kürzlich ans Licht gekommen. Da die entsprechenden Passagen dieser Untersuchung von allgemeinerem Interesse sein dürften, seien sie hier vorab mitgeteilt:
Ursprünglich wurden an der hohen Rechtsschule von Abdera nur die Besten und Interessiertesten zugelassen. Mit allem Eifer, den man sich nur wünschen kann, widmeten sie sich dem Studium der Wissenschaft. Die Vorlesungen, in denen würdige Gelehrte über die Ergebnisse ihrer Forschungen berichteten, waren bis zum letzten Platz gefüllt. Denn wo sonst hätte man sich besser darüber informieren können, was die abderitische Rechtswissenschaft zu sagen hatte? Am Ende des Studiums wurden regelmäßig Prüfungen abgehalten, die als schwierig galten. Die Professoren pflegten sich nämlich unnachsichtig davon zu überzeugen, ob jeder Kandidat sein Fach von Grund auf verstanden hatte. Kein Wunder also, daß auch die Besten zuvor noch einmal alles wiederholten, was sie in den Jahren ihres Studiums gelernt hatten. Es gab wohl auch Repetitoren, die ihre Hilfe dabei anboten; aber sie führten eine verschwiegene Existenz, weil es unter Leuten, die auf sich hielten, als anrüchig galt, von diesem Angebot Gebrauch zu machen.
Eines Tages jedoch hatte der hohe Rat von Abdera die Erleuchtung, daß die Kenntnis der Jurisprudenz nicht länger einer Minderheit vorbehalten sein sollte. Alle sollten an den Segnungen dieser Wissenschaft teilhaben und auf diese Weise ihre verborgenen Fähigkeiten zur Entfaltung bringen. Also erging ein Beschluß, wonach die hohe Rechtsschule von Abdera für alle geöffnet wurde, die kommen wollten, um hier ihren Lebenssinn zu suchen. Wie zu vermuten war, kamen schon bald so viele, daß die hohe Schule sie kaum fassen konnte. Wo bislang eine gedankenvolle Stille geherrscht hatte, machte sich Lärm und Stimmengewirr breit. Aber nicht alle, die kamen, waren an der Wissenschaft interessiert. Viele waren nur durch die Aussicht angelockt worden, als Absolventen der hohen Rechtsschule dereinst zu Geld und Ansehen zu gelangen. Dazu mußte man freilich zunächst einmal die Prüfungen bestehen, die, wie erwähnt, nicht leicht waren. Entgegen aller Erwartung stellte sich indessen heraus, daß gerade diejenigen, die für die Theorie des Rechts nur wenig Verständnis aufbrachten, das Prüfungswesen um so besser verstanden. Ihr Krämergeist sagte ihnen nämlich, daß man, um die Prüfungen zu bestehen, sich nicht unbedingt mit der Wissenschaft herumgeplagt haben mußte. Wenn man ungefähr wußte, was geprüft wurde, genügte es vielmehr, sich ausschließlich auf die Prüfungen vorzubereiten. Also strömten sie in Scharen zu den Repetitoren und verlangten, daß diese sie mit möglichst wenig Aufwand prüfungsreif machen sollten.
Bis dahin hatten sich die Repetitoren nur auf die Kunst verstanden, ihren Klienten in Erinnerung zu rufen, was diese ohnehin bereits wußten. Unter dem Einfluß dieser neuen Forderungen aber erhielt ihr Geschäft einen anderen Zuschnitt. Sie mußten nunmehr auch solche, die niemals wissenschaftlichen Vorträgen beigewohnt hatten, in knapp bemessener Zeit darauf abrichten, was bei der Prüfung alles gefragt werden konnte. Es dauerte nicht lange, bis man dahinterkam, welche Methoden dazu geeignet waren. Listen der typischen Prüfungsaufgaben wurden angelegt und mit Musterlösungen versehen, welche die Schüler so oft abschreiben mußten, bis sie ihnen von selbst aus der Feder flossen. Prüfungsprotokolle wurden geführt, aus denen man ersehen konnte, welche Fragen die einzelnen Lehrer stellten und welche Antworten sie darauf erwarteten. Kurz: aus dem früheren Repetitorium wurde ein Paukbetrieb, in dem auch die weniger Guten in einer Weise aufgepäppelt wurden, daß sie jedenfalls in den Prüfungen von denen, die sich ernsthaft mit der Wissenschaft beschäftigt hatten, kaum zu unterscheiden waren.
Als man an der hohen Rechtsschule von Abdera dessen gewahr wurde, kam man überein, daß etwas geschehen müsse. Wenn die Faulen und Unbegabten einfach die Antworten auf die üblichen Prüfungsfragen auswendig lernten, so blieb bei aller Liebe zum Gewohnten und Hergebrachten nichts übrig, als von Mal zu Mal etwas anderes zu fragen. Das war freilich nicht leicht; denn die Grundlagen der abderitischen Rechtswissenschaft änderten sich nicht so schnell, wie es aus Prüfungsgründen jetzt wünschenswert gewesen wäre, sie blieben vielmehr über lange Zeiträume hinweg dieselben. Also schob man in den Prüfungen das Alte und Bewährte jetzt notgedrungen beiseite und prüfte statt dessen das Aktuellste und Neueste, was natürlich nichts anderes war als das, was gerade die Gerichte entschieden hatten oder was zufällig im abderitischen Juristenblatt stand.
Dadurch aber schlich sich langsam aber sicher ein Widerspruch in die abderitische Juristenausbildung: Gelehrt wurde nach wie vor das Grundsätzliche, aber geprüft wurde das Zufällige; Lehre und Prüfung wurden voneinander getrennt, und der Prüfungsstoff folgte fortan eigenen und nicht immer wissenschaftlichen Gesetzen. Auch bei den Besten reichte es schon bald nicht mehr aus, daß sie die Vorlesungen besucht und das dort Gelernte noch einmal wiederholt hatten. Um die Prüfungen zu bestehen, mußte man vielmehr auch das Geprüftwerden besonders studiert haben.
Gerade dies verschaffte den Repetitoren eine überraschende Rechtfertigung. Denn wo sonst, wenn nicht bei ihnen, sollte man sich eigentlich über das jeweils Neueste kundig machen, wenn in den wissenschaftlichen Vorträgen immer nur vom Grundsätzlichen die Rede war? So kam es, daß die Repetitoren im Laufe der Zeit einen eigenen Ausbildungsgang entwickelten, mit einem eigenen Lehrstoff, eigener Literatur und eigenen Methoden, eine Art Schattenausbildung also, die mit der berühmten abderitischen Rechtswissenschaft in der Sache nicht viel gemein hatte, aber allein imstande war, auf die abderitischen Prüfungen vorzubereiten. All das merkten schließlich auch die Besten und Interessiertesten, und deshalb wurde der Bogen, den sie aus alter Gewohnheit um den Repetitor bis dahin noch gemacht hatten, immer kleiner. Für sich genommen wäre das vielleicht nicht bemerkenswert gewesen, wenn nicht gleichzeitig ihr Interesse an der abderitischen Rechtswissenschaft allmählich erlahmt wäre. Aber wie soll sich jemand für die Rechtswissenschaft interessieren, wenn er sieht, daß es darauf in seinem Umkreis gar nicht ankommt, wenn vielmehr in den Prüfungen gerade diejenigen, die sich um nichts als die Prüfung gekümmert haben, das höchste Lob einheimsen? Während sich die Pauksäle der Repetitoren mit Hörern füllten, trockneten daher die Vorlesungsräume der hohen Rechtsschule von Abdera zusehends aus. Auch die bedeutendsten Gelehrten standen immer häufiger vor leeren Bänken, vor allem dann, wenn sie ihre tiefschürfenden Vorträge versehentlich auf dieselbe Zeit angesetzt hatten wie die Repetitoren ihre Paukkurse.
Als dies in der Öffentlichkeit ruchbar wurde, breitete sich Unmut aus unter den Bürgern von Abdera. Was treiben die Lehrer an der hohen Rechtsschule eigentlich, wurde immer lauter gefragt, wenn sie nicht einmal ihre Schüler auf die Prüfung vorbereiten? Es kann doch wohl nicht sein, daß die Stadt Abdera jährlich Tausende von Drachmen für die juristische Ausbildung hinlegt, wenn sich gleichzeitig die Rechtskandidaten eine Ausbildung, die sie befähigt, die Prüfung zu bestehen, für teures Geld beim Repetitor kaufen müssen! Wofür werden die Lehrer eigentlich bezahlt, wenn nicht für die Lehre? Sollen sie also gefälligst ihres Amtes walten und den Repetitor überflüssig machen!
Solche Argumente überzeugten naturgemäß vor allem die abderitischen Steuerzahler. Interessanterweise mochten sich aber auch einige Professoren diesen Überlegungen nicht verschließen, vor allem solche, die ihr Studium selbst beim Repetitor absolviert hatten und das, was die abderitische Rechtswissenschaft früher einmal gewesen war; nur noch vom Hörensagen kannten. Als der Rat der Stadt nach langen Überlegungen endlich die weitere Erleuchtung hatte, an der hohen Rechtsschule ebenfalls Repetitorien einzurichten, stieß er daher aus den Reihen der Wissenschaft nur noch auf geringen Widerstand. Im Laufe weniger Jahre richteten die Professoren ihre Vorträge vielmehr ganz nach den Prüfungen aus, wie sie es bei den Repetitoren gesehen hatten, faßten den wissenschaftlichen Lehrstoff in kurze, einprägsame Formeln und hämmerten diese ihren Schülern solange ein, bis sie alles im Schlaf hersagen konnten. Auf diese Weise wurde die hohe Rechtsschule von Abdera dank der gemeinsamen Anstrengung aller schließlich so reformiert, daß ihr kein Repetitor mehr Konkurrenz machen konnte. Wie vordem die wissenschaftlichen Vorträge, so trockneten jetzt die privaten Repetitorien aus. Die meisten Repetitoren gaben ihr Geschäft nach und nach auf und suchten ein Unterkommen bei der hohen Rechtsschule, wo sie wegen ihres didaktischen Geschicks meist bereitwillig aufgenommen wurden. Die Säle an der hohen Rechtsschule aber füllten sich wieder mit Hörern, die begierig auf die Worte ihrer Lehrer lauschten, fast so, wie es früher einmal gewesen war.
Wie der Rat der Stadt voll Stolz bekanntmachen ließ, war die abderitische Studienreform ein voller Erfolg gewesen, einzig und allein zu verdanken dem abermaligen entschlossenen Eingreifen des Rates. Freilich interessierte sich für die abderitische Rechtswissenschaft außerhalb von Abdera fortan niemand mehr. An der hohen Rechtsschule wußte man sich darüber jedoch leicht zu trösten. Anstelle der früheren Rechtswissenschaft war nämlich die in Abdera neuerdings praktizierte Rechtsdidaktik unter dem Namen des abderitischen Trichters schon bald in aller Munde. Wer auch immer damit in Berührung kam, war des Lobes voll und pries diesen Trichter als der Weisheit letzten Schluß. Auf diese Weise von Generation zu Generation weitergegeben, hat jedenfalls die abderitische Rechtsdidaktik den Untergang der antiken Stadt Abdera noch lange überlebt. Und wenn sie nicht in Vergessenheit geraten ist, dann wird sie heute noch praktiziert.